Kein Schutz bildungsferner Schichten durch die verbindliche Lehrerempfehlung

Das Bayerische Kultusministerium interpretiert Studien zur verbindliche Lehrerempfehlung falsch.

Immer wieder hört man, vor allem von der Seite des Kultusministeriums (KM) und der CSU, die verbindliche Lehrerempfehlung kann der sozial selektiven Entscheidungen entgegenwirken. Das entspricht so gar nicht der subjektiven Erfahrung, dass die Kinder aus bildungsnahen Schichten viel mehr Unterstützung zuhause – wenn nicht sogar mit Nachhilfeunterricht – erfahren und damit eigentlich bessere Chancen haben müßten. Sichtet man nun diese Studien genauer, z.B. die Studie Soziale Ungleichheiten beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I.“ von Dumont et al., findet man die Antwort auf die merkwürdig wirkende Behauptung. Diese Studie besagt, dass eine verbindliche Lehrerempfehlung tatsächlich sozial selektiven Entscheidungen entgegenwirken kann.

Allerdings wird in dieser Studie auch klar, dass die bayerische Übertrittsregelung diesen Schutz für bildungsschwächere Schichten nicht gewährt. Denn die Studie verwendet das Wort „verbindlich“ nicht wie das KM: das bayerische Übertrittsverfahren ist nämlich nur in einer Richtung verbindlich und in der Studie heißt „verbindlich“ in beide Richtungen verbindlich.

Die Rechnung der Studie ist einfach: wenn alle Schüler mit der Lehrerempfehlung „Gymnasialeignung“ im Übertrittszeugnis auch das Gymnasium besuchen müßten, dann wäre der Anteil der Gymnasiasten höher.

2017                                                     Gymnasium           Realschule           Mittelschule
Eignungszahlen bayernweit:            51,8 %                     16,8 %                      31,4 %
Übertrittszahlen bayernweit:          39,3 %                     28,6 %                     30,0 %
Verschiebung:                                    + 12,5 %                   – 11.8 %                     + 1,4 %

51,8% der Schüler hatten 2017 in Bayern die Lehrerempfehlung fürs Gymnasium, aber nur 39,3 % traten dann ins Gymnasium über. Die 12,5%, die sich gegen das Gymnasium entschieden, finden sich wahrscheinlich in der Realschule wieder. Hier melden sich mit 28,6% deutlich mehr Schüler an, als es Lehrerempfehlungen für die Realschule gab. Die Diskrepanz zwischen Eignungszahlen und Übertrittszahlen ist damit eine Verschiebung der Schülerzahlen von über 10% vom Gymnasium in die Realschule.

Die Entscheidung, die höhere Schule freiwillig nicht zu besuchen fällen eher in bildungsferne Schichten. Wenn man demnach die Kinder aus bildungsferneren Schichten schützen wollte, müßten man die verbindliche Lehrerempfehlung einführen, in der die Eltern keine Entscheidungsfreiheit hätten, sich für die niedrigere Schulart zu entscheiden.  Die den Elternwillen einschränkende verbindliche Lehrerempfehlung gilt in Bayern aber nur in Richtung höhere Schulart. Eine Abweichung der Lehrerempfehlung in Richtung höhere Schulart mit dem Elternwillen ist in Bayern nicht möglich. Daher fällt der vom KM propagierte Schutz der bildungsfernen Schichten weg.

Im Grunde macht das bayerische Übertrittsverfahren genau das Gegenteil von dem was es behauptet: Es schützt die bildungsschwachen Schichten nicht. Da es wahrscheinlich bei dem ganzen Spuk um den Erhalt der Mittelschule geht, und nicht um soziale Gerechtigkeit, und man außerdem auch keine Verschiebung der Gymnasialzahlen von 40% auf 50% haben will, wird es in Bayern auch keine echte verbindliche Lehrerempfehlung geben.

Bei der Freigabe des Elternwillens kann man im Übrigen einen deutlich geringeren Anstieg der Gymnasialzahlen erwarten. Die Freigabe des Elternwillens im Schuljahr 2012/13 in Baden Württemberg zeigt, dass dort die Zahlen für das Gymnasium von 40,9% (2011/12) auf nur 43,9% (2012/13) im Folgejahr stiegen.